Seit Ludwig Justis Dissertation "Konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken Albrecht Dürers" von 1902 hat es zum Aufbau und zur Formbildung von Köpfen durch den Nürnberger Meister keine weitere Studie mehr gegeben. [1] Ausgehend von dem ihm zugeschriebenen Kopf eines Mannes habe ich den Sachverhalt neu geprüft. [2] Diese in 2016 begonnene Untersuchung korrigiert Justis Ergebnisse, indem sie seine zu kurz greifenden Ansätze weiterentwickelt.
Es war lange bekannt, dass der Kopf eines Mannes "aus dem Maß" gemacht ist. [3] In welcher Weise, wurde von Justi jedoch nur ungenügend erfasst. [4] Tatsächlich aber birgt das Bild ein komplexes System der Gestaltfixierung, das auf mathematisch quantifizierbaren Größen beruht. Wie es scheint, nimmt das Gemälde im Vergleich mit anderen Arbeiten Dürers sogar eine Schlüsselstellung bei seinen (kopf)konstruktiven Verfahren ein.
Neben dem Kopf eines Mannes wurden rein fiktive, konstruierte Köpfe, Selbstbildnisse und Porträts anonymer sowie identifizierter Personen von der Hand Dürers betrachtet. Sie sind in den Kontext einer Reihe von Traditionen eingebettet, die der Künstler kannte und aufgriff. Offensichtlich orientierte er sich auch an der zeitgenössischen italienischen Malerei. Dürers Konstruktionen sind eine Synthese von alter und neuer Kunst an der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance.
Vorläufig ist festzuhalten, dass Dürer vor der Aufnahme seiner systematischen Proportionsstudien und bis zum Lebensende die organische Gliederung von Köpfen / Gesichtern in einer technisch gleichbleibenden Weise geometrisch flächenhaft zusammensetzte. Dabei machte er keinen Unterschied zwischen frontaler Ausrichtung oder seitlicher Wendung.
Für jede Bildaufgabe fand er einen neuen Ansatz, welcher auf einem Grundschema aufbaute. Seine Zeichengeräte Zirkel und Richtscheit (Lineal) [5] wiesen den Bestandteilen der Köpfe und Gesichter Positionen an, bestimmten deren Lageverhältnisse und gaben Konturen. Stärker als bislang vermutet strebte Dürer danach, Naturstudium und Kunstidealität miteinander zu vereinbaren. Der Umfang, die Präzision und die Wandelbarkeit seiner Konstruktionen sind verblüffend.
[1] Ludwig JUSTI, Konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken Albrecht Dürers, Leipzig 1902; vgl. Georg WOLFF, Mathematik und Malerei, Wiesbaden 1925, bes. Idealfiguren der Porträtmalerei, S. 78-81.
[2]
Zuschreibungen des Bildes an Dürer: Fedja ANZELEWSKY, Albrecht Dürer: das malerische Werk, 2 Bde., 2. neu bearb. Auflage Berlin 1991, Bd. 1, S. 246-247,
Bd. 2, Tafeln 142-144; Campbell DODGSON, Notes on Dürer, in: Burlington Magazine 39 (1921), S. 177-178, 180-181, 183-184, plate I.A, plate II.B; Max J. FRIEDLÄNDER, Zur Auktion der Sammlung
M. v. Nemes, 1. Die Gemälde, in: Pantheon VII (1931), S. 141-146, hier: S. 142-143; Friedrich WINKLER, Dürer. Des Meisters Gemälde, Kupferstiche und
Holzschnitte, (Klassiker der Kunst in Gesamtausgaben, Bd. 4) 4. neubearb. Aufl. Stuttgart / Berlin 1934, S. 92 u. 420; Hans TIETZE / Erika TIETZE-CONRAT, Kritisches Verzeichnis der Werke
Albrecht Dürers, Bd. 2.1: Der reife Dürer. Von der venezianischen Reise im Jahre 1505 bis zur niederländischen Reise im Jahre 1520 nebst Nachträgen aus den Jahren 1492 bis 1505, Augsburg
1937, S. 118, Nr. 660, Abb. S. 279; (mit Einschränkung) Erwin PANOFSKY, Albrecht Dürer, 2 vols, 3rd. ed. Princeton 1948, Bd. 2, S. 19, Nr.
94; Konrad EBERLEIN, Albrecht Dürer, 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2011, S. 57.
[3] Zitat FRIEDLÄNDER
(1931), S. 142. Die Diskussion zur Konstruktion begann DODGSON (1921).
Der Kopf eines Mannes ist ein selten gewürdigtes Gemälde, das bisher nur zwei Male, 1928 und 1957, in Ausstellungen gezeigt wurde. [1] Campbell Dodgson führte es 1921 als ein Werk Dürers ein, als es sich in einer Londoner Sammlung befand. Angeregt von der strengen Frontalität und dem "kalten, unpersönlichen Charakter" diskutierte er bereits damals ein dem Kopf eingeschriebenes Schema. Er ließ sich beraten von Ludwig Justi, der 1902 mit einer Arbeit über "Konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken Albrecht Dürers" promoviert hatte. [2]
Noch Erwin Panofsky wollte eine Zuschreibung an Dürer mit einer Röntgenuntersuchung des Bildes untermauert wissen. [3] Als Übermalungen entfernt waren, überzeugte es das Gros der Kunsthistoriker wie Fedja
Anzelewsky, zumal Infrarotreflektographien stellenweise die Unterzeichnung enthüllt hatten. [4] Unter den Kritikern geben bspw. Matthias Mende und Norbert Wolf für ihre Abschreibungen keine hinreichenden Begründungen
an. [5]
Der Kopf eines Mannes präsentiert sich als fast bildfüllende Büste vor tiefdunklem Hintergrund. Die raumgreifende Größe des En Face-Kopfes und das übergangslose Schwarz, welches auch die Oberkleidung einschließt, verleihen dem unbekannten Antlitz eine starke Präsenz. Vermutlich handelt es sich um eine Studienarbeit: Träger des ansonsten gut erhaltenen Gemäldes ist nur eine Tafel aus dünnem Holz, auf dem ein Pergament fixiert wurde.
Das Gesicht des Mannes ist von warmer Komplexion mit gesunder Hautfarbe und roten Wangen sowie einigen Glanzflecken. Neben den Brauen verraten wenige weiße Bartstoppeln ein vorgerücktes
mittleres Alter, als auch ein paar Strähnen in der aschblonden Pagenfrisur, in die wenig zeichnerische Mühe floss.
Die wachen, konzentriert blickenden Augen sind braun-grün und weisen die für Dürer typischen Fensterkreuz-Reflexe auf der Hornhaut mit Gegenbelichtung in der Iris auf. [6] Die von links erhellten, sorgfältig mit Licht- und Schattenzonen modellierten Gesichtszüge sind leicht asymmetrisch, zudem ist ein Auge kleiner wiedergegeben - sie wirken insgesamt umso lebensechter.
Gegenüber der auf Augen, Nase, Mund und Kinnkontur konzentrierten Unterzeichnung gibt es bei der malerischen Ausführung kaum Abweichungen. Manche Linien scheinen durch die Malschicht durch: Das (betrachterseits) linke Auge kam etwas tiefer zu liegen, die Haarlänge 'wuchs' und die Nasenflügel wurden verbreitert. Ursprünglich waren sie auf einer Vertikalen mit den Tränenpunkten der Augen positioniert. Auch die Oberlippe des im Verhältnis zur breiten Kinn- und Halspartie kleinen Mundes, den ein Pinselstrich um einen Spalt 'öffnet', war geringfügig schmaler angelegt.
Wer das Bild genauer betrachtet, entdeckt zwei 'Markierungen': Ein senkrechter Strich teilt mittig die Nasenspitze und am Scheitel befindet sich eine Art gemalter Kerbe. Die Vermutung, dass es sich um einen konstruierten Kopf handelt, hat in diesen Stellen ihren Anhalt. Durch sie verläuft die Mittellinie eines Lineargerüstes, welches zu der von Dürers Zeit gängigen, aus der Antike von dem römischen Baumeister Vitruv übernommenen Teilung in drei gleiche Abschnitte abhängt. [7]
An das Proportionsdiagramm ist ein komplexes geometrisches Schema gebunden, das mit Zirkel und Lineal in numerischen Relationen zustande kam. Diese zur Mailänder Ausstellung "Dürer e il Rinascimento tra Germania e Italia" erstellte Webpage gibt eine nachschaffende Idee von Dürers Konstruktionshergängen unter dem Menüpunkt "Geometrisierte Köpfe".
[1] 1928 im Germanischen Nationalmuseum zum 400. Todesjahr von Dürer sowie 1957 in New York.
[2] Campbell DODGSON, Notes on Dürer, in Burlington Magazine
39 (1921), S. 177-178, 180-181, 183-184, plate I.A, plate II.B.
[3] Erwin PANOFSKY, Albrecht Dürer, 2 vols, 3rd. ed. Princeton (1948), Bd. 2, S. 19, Nr. 94.
[4] Fedja ANZELEWSKY, Albrecht Dürer: das malerische Werk,
2 Bde., 2. neu bearb. Auflage Berlin 1991, Bd. 1, S. 246-247, Bd. 2, Tafeln 142-144; weitere Zuschreibung etwa durch: Max J. FRIEDLÄNDER, Zur Auktion der Sammlung M. v. Nemes, 1. Die Gemälde, in: Pantheon VII (1931), S. 141-146, hier: S. 142-143.
[5] Matthias MENDE, "Albrecht Dürer",
in: Saur. Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 30 (2001), S. 295-306; Norbert WOLF, Albrecht Dürer, München / Berlin / London / New York 2010, S. 280, FW 14.
[6] W. REITSCH, Das Dürer-Auge, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 4
(1928), S. 165-200.
[7] VITRUVIUS, Zehn Bücher über Architektur (De Architectura libri decem), übersetzt und mit Anm. versehen von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1996, III.1.2.
Das Gemälde Kopf eines Mannes befand sich 1921 in der Sammlung von Mr. S. Wilensky in London, wo es Campbell Dodgson bekannt und von ihm als ein Werk Dürers identifiziert wurde. Seit seiner Entdeckung gilt der Kopf als konstruiert. Von London gelangte das Bild in den Besitz des Künstlers, Schriftstellers, Sammlers und Kunsthändlers Franz Naager (1870 - 1942) nach München. In seinen Räumen in der Brienner Straße (ehemaliges Haus der Schack-Galerie) stellte er es aus. Naager kam in wirtschaftliche Schwierigkeiten und musste es verkaufen. Der nächste Besitzer wurde der ungarische Industrielle, Kunstsammler und -mäzen Marczell von Nemes (1866 - 1930), der seinen Sitz in Schloss Tutzing am Starnberger See hatte (heute: Evangelische Akademie).
Der Kopf eines Mannes wurde 1928 bei der Gedenk-Ausstellung zu Dürers 400. Todestag im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gezeigt. Nach dem Tod von Nemes ersteigerten die Kunsthändler Silberman (Wien, mit Filiale in New York) am 16. Juni 1931 das Gemälde mit der Kat.Nr. 73 in München. Die Versteigerung des Nemes-Nachlasses erfolgte durch die Häuser Paul Cassirer (Berlin), Hugo Helbing (München) sowie Mensing & Sohn (Frederik Muller & Co.) (Amsterdam). Das Bild verblieb im Besitz der Gallery Elkan and Aris Silberman Inc. in New York, bis es an die Industriellen Hickox verkauft wurde. Mr. und Mrs. Charles Hickox liehen es der Silberman Gallery 1957 für die Ausstellung "Art unites Nations" zum zehnjährigen Jubiläum der Vereinten Nationen in New York aus.
Es sollte die vorerst letzte öffentliche Präsentation des Werkes für lange Zeit sein. Später wurde der Kopf eines Mannes in die von Catherine Barker Hickox (1896-1970) gegründete Barker Welfare Foundation eingebracht. Die Stiftung reichte ihn 1973 als Leihgabe an das Art Institute Chicago weiter. Im Januar 1985 wurde das Bild über Sotheby's in New York versteigert und kehrte nach Deutschland (in privaten Besitz) zurück.