Offensichtlich konnte Dürer, der sich für Konstruktionen jahrzehntelang aus derselben zeichnerischen "Toolbox" bediente, seine Schemata auch dynamisch weiterentwickeln. Beim Wiener Brustbild einer jungen Venezianerin, das mitnichten der anderen in Berlin bewahrten Dame aus Venedig gleicht, ist das Raster aus neun Feldern ungewöhnlich gekippt. [1]
Die zur linken Ecke aufwärts strebenden Linien sind parallel zu einem Dreiecksschenkel angeordnet, der die Wange der Unbekannten berührt. Eine weitere Dreiecksseite liegt genau auf der Kinnlinie des Liniengerüsts, während die obere präzise durch einen Schnittpunkt an der Haargrenze verläuft.
Bei diesem Gemälde ist anzunehmen, dass erst die Gerade an der Wange und das vollständige Dreieck von Bildkante zu Bildkante konzipiert waren, bevor Dürer das Gitternetz zur Ordnung von Gesicht und Oberkopf anlegte.
In der Regel müsste im ersten Schritt eine Mittelsenkrechte entstehen, an der die vitruvische Gesichtsdreiteilung abgetragen wird. (So bilden sich sechs Felder, die um drei weitere zur rechten Seite ergänzt werden, wenn es sich um ein Dreiviertelprofil handelt).
Oft gibt es Anhaltspunkte, wo diese zentrale Senkrechte beginnt und endet oder durch welche Punkte sie hindurchläuft. Im Fall der Venezianerin aus Wien gibt es aber nur eine erkennbare Stelle: den Augenwinkel am Nasenrücken. Die Wangenlinie aber strebt exakt auf einen Punkt an der Bildkante zu, den das weiße Band auf dem rötlichen Kleid markiert.
Auch das Bildnis eines jungen Mannes aus Berlin 'funktioniert' anders. Der Aufbau des Schemas muss gleichfalls mit einer Linie begonnen haben, die vorerst die abgewandte
Gesichtsseite vorbildete. Auch diese Gerade wurde zu einem ungleichmäßigen Dreieck ergänzt, welches die rechte Bildkante mit dem oberen Rand des geschwärzten Hintergrundes verbindet.
Auf das Dreieck legte Dürer ein schräges Proportionsdiagramm mit neun Feldern. An zwei Punkten treffen Linien aufeinander oder schneiden sich: Wichtig ist die Spitze des Kinns, denn dort
beginnt das Abtragen drei gleicher Teile der Gesichtslänge. Des Weiteren haben sich Schnittstellen auf Höhe der Barett-Krempe sowie rechts am Kragen knapp unter der Kolbenfrisur ergeben.
Für die Binnenschematisierung kamen einige Zirkelschläge mit dem Radius des Innenkreises zum Einsatz. Von verschiedenen Ansatzpunkten aus gliedern sie das Gesicht und legen die Ausmaße des Baretts fest. Eine Linie teilte das Dreieck in zwei gleiche Hälften. Sie verortet einen Augenwinkel.
[1] Über einen eventuellen Bezug von Dürers Venezianerinnen-Gemälde (Bild 29 u. Bild 35) zu Giovanni Bellini siehe: Michael LEVEY, Minor Aspects of Dürer's Interest in Venetian Art, in: The Burlington Magazine 103 (1961), S. 510-513.