Bei seinem ersten Italien-Aufenthalt traf Dürer in Venedig auf die Kunst Mantegnas (siehe Dürer in Italien), von dem er Werke nachzeichnete, sowie neben anderen auf Giovanni Bellini (1437 - 1516). Er eignete sich die damals aktuelle Kunstrichtung in Venedig "bis zur vollkommenen Beherrschung" an. [1]
Mantegna soll sogar Dürers Kunstfertigkeit gelobt haben. Die einzige zeitnahe Bemerkung dazu stammt von Joachim Camerarius (1500 - 1574), der zugleich darauf hinwies, dass Mantegna "die Malerei zu einer gewissen Strenge und Gesetzlichkeit" zurückgeführt habe. [2]
Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass Dürer in der Auseinandersetzung mit den italienischen Künstlern auch mit maßästhetischen Belangen in Berührung kam. Für die hier abgebildeten Arbeiten Mantegnas und Giovanni Bellinis, zu dem Dürer eine freundschaftliche Verbindung knüpfte [3], wurden exemplarisch Konstruktionen nachvollzogen.
Sie gehen zunächst von einer vitruvischen Dreiteilung des Gesichts aus. Im Fall des Dogen ist sie um die gleiche Grundeinheit nach oben verlängert und endet am Scheitelpunkt der 'Corno Ducale' genannten Kappe.
Für beide Werke ist festzustellen, dass die Quadratnetze Angelpunkte für die ganze Komposition liefern. Auch Dürer gebrauchte Hilfslinien bei seinen Kopfkonstruktionen, die das Umfeld der Dargestellten einbezogen (siehe Vor 1500).
Bei Mantegnas Bildnis eines Mannes verläuft eine (schwarze) Linie von einem rechten oberen Eckpunkt entlang der Wange hinunter zu
einer durchgezogenen Vertikalen. Eine Diagonale streift exakt einen Augen- und Mundwinkel im Gesicht. Eine weitere Linie (rot) zieht am Hals entlang und trifft oben an der Bildkante auf die
genannte Vertikale. [4]
In Bellinis Porträt des Dogen Leonardo Loredan ist der Einsatz eines Innenkreises bemerkenswert, dessen Radius Abmessungen des Gesichtes und der Kappe vorzugeben scheint.
Auffällig sind auch die roten Linien, von denen eine sich an das Gesicht 'schmiegt', eine andere die Schulter nachzeichnet und eine weitere einen markanten Punkt der Kappe trifft. Zwei
Linien laufen an der Stelle zusammen, wo die Knopfleiste des Stehkragengewandes beginnt.
[1] Johann Konrad EBERLEIN, Albrecht Dürer, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 20; vgl. Fritz KORENY, Dürer e Venezia, in: Ausst.Kat.
"Il Rinascimento a Venezia e la pittura del nord ai tempi di Bellini, Dürer, Tiziano", Padua, hrsg. v. Bernard Aikema / Beverly Louise Brown, 26. Januar - 16. Juli 1999, S. 240-249, bes.
241.
[2] Camerarius übersetzte theoretische Werke Dürers ins Lateinische. Zitat: Thomas SCHAUERTE, Dürer. Das ferne Genie. Eine
Biographie, Stuttgart 2012, S. 58-59: Dürers Kunstfertigkeit "(...) räumte mit offensichtlichem Freimut auch Andrea Mantegna ein, der in Mantua hohes Ansehen genoß; er hatte die Malerei zu einer
gewissen Strenge und Gesetzlichkeit zurückgeführt (...)."; vgl. Marzia FAIETTI, Aemulatio versus simulatio. Dürer oltre Mantegna, in: Ausst.Kat. "Dürer e l'Italia", Scuderie del Quirinale / Rom,
10. März - 10. Juni 2007, hrsg. v. Kristina Herrmann Fiore, Mailand 2007, S. 81-87, hier: S. 81.
[3] Mit Genugtuung berichtete Dürer in einem Brief vom 7. Februar 1506 von einem Treffen mit dem alten Maler. Hans RUPPRICH,
Dürer. Schriftlicher Nachlass, Bd. 1, Berlin 1956, S. 44; vgl. Édouard POMMIER, Dürer e il ritratto italiano, in: Ausst.Kat. "Dürer e l'Italia",
Scuderie del Quirinale / Rom, 10. März - 10. Juni 2007, hrsg. v. Kristina Herrmann Fiore, Mailand 2007, S. 105-108, hier: S. 106.
[4] Eine ähnliche Systematik von Linien, die zur Gesichtsbeschreibung zwischen dem
Liniengerüst und dem Bildformat vermitteln, ließ sich auch in dem Mantegna zugeschriebenen Porträt eines Mannes mit schwarzer Kappe (Musée des Beaux-Arts et d'Archéologie, Inv.Nr. D.3103) ermitteln. Siehe beide Werke in: Ausst.Kat. "Andrea Mantegna", Royal
Academy of Arts / London, 17. Januar - 5. April 1992 und The Metropolitan Museum of Art / New York, 9. Mai - 12. Juli 1992, hrsg. v. Jane Martineau, London 1992, Kat.Nrn. 106 + 107.